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Die paradoxe Kraft der Hingabe (Teil 2)
Wie du deine Kontrollmuster überwindest und Hingabe praktisch lebst
Willkommen zurück zur Fortsetzung unserer Reise!
Gestern haben wir die Grundlagen der Hingabe erkundet - was sie ist und was nicht, ihre paradoxe Kraft und wie tiefgreifend sie unser Leben verändern kann.
Heute wird es konkret und praktisch: Wir identifizieren die häufigsten Kontrollmuster, die uns im Alltag begegnen, und ich zeige dir erprobte Wege, wie du aus dem Kontrollzwang in die befreiende Kraft der bewussten Hingabe finden kannst.
Die drei häufigsten Kontrollmuster im Alltag
In meiner Arbeit mit Kunden und durch eigene Erfahrung habe ich drei besonders verbreitete Kontrollmuster identifiziert, die uns unbewusst in den Dauerstress treiben.
Erkennst Du Dich in einem (oder mehreren) wieder?
Der Perfektionist - "Ich kontrolliere durch Präzision."
Kernglaube: "Wenn ich alles perfekt mache, kann nichts schiefgehen."
Zeichnet sich aus durch:
Übermäßiges Planen und detaillierte Listen
Schwierigkeiten, Aufgaben zu delegieren
Exzessives Überprüfen der eigenen Arbeit
Vermeidet Situationen mit unklarem Ausgang
Schlaflosigkeit durch gedankliches "Durchkauen" erdachter oder realer Situationen
mögliche neurobiologische Folgen:
Konstante Aktivierung des präfrontalen Kortex, der niemals "abschalten" darf
Die andauernde kognitive Überanstrengung führt zu mentaler Erschöpfung und paradoxerweise zu erhöhter Fehleranfälligkeit - ein Teufelskreis
Der Kontrollierer - "Ich kontrolliere durch Vorausplanung."
Kernglaube: "Wenn ich alle möglichen Szenarien vorhersehe, kann ich mich vor Überraschungen schützen."
Zeichnet sich aus durch:
Exzessives Durchspielen von "Was wäre, wenn..."-Szenarien
Chronische Sorgen über Dinge, die wahrscheinlich nie eintreten werden
Hat Probleme, spontane Entscheidungen zu treffen
Ständiges Bedürfnis nach mehr Informationen, bevor gehandelt wird
Hat Schwierigkeiten, das zu genießen, was gerade ist
mögliche neurobiologische Folgen:
Chronische Aktivierung der Amygdala, die ständig nach potenziellen Bedrohungen sucht
Dies führt zu erhöhten Kortisolwerten und einem Nervensystem, das nie wirklich zur Ruhe kommen kann
Der Leistungsträger - "Ich kontrolliere durch Leistung."
Kernglaube: "Solange ich erfolgreich bin und immer mehr erreiche, bin ich sicher."
Zeichnet sich aus durch:
Hat Schwierigkeiten, Pausen zu machen
Identifikation mit Leistung und Ergebnissen
Rastlosigkeit, wenn nichts "Produktives" getan wird
Tendenz, den eigenen Wert an Leistungen zu knüpfen
Angst vor Stillstand oder "nichts tun"
mögliche neurobiologische Folgen:
Es entwickelt sich eine Dopamin-getriebene Sucht nach Erfolgs-"Hits"
Das Belohnungszentrum kann nur durch immer größere Erfolge stimuliert werden, was zu einem Teufelskreis der Erschöpfung führt
Na? Hast Du Dich in einem der Muster wiedererkannt?
Übung: Das Kontroll-Inventar
Ich lade Dich ein, für einen Moment innezuhalten und eine Bestandsaufnahme Deiner Kontrollbereiche zu machen. Nimm Dir 10 Minuten Zeit, einen Stift und ein Blatt Papier:
Erstelle eine Liste Deiner Kontrollbereiche
Schreibe alle Bereiche auf, in denen Du Kontrolle ausübst oder ausüben möchtest. Sei ehrlich mit Dir selbst. Du musst diese Liste niemandem zeigen - sie ist nur für Dich und es geht nur um eine ehrliche Bestandsaufnahme.
Mögliche Beispiele (übergeordnet, mache es gern detaillierter in den einzelnen Bereichen):
Dein Tagesablauf
Deine Gesundheit
Das Verhalten anderer
Dein Image/wie andere Dich sehen
Deine Zukunft
Dein Zuhause/ Deine Umgebung
Dein Erfolg/Deine Karriere
Identifiziere die Illusionen der Kontrolle
Markiere nun in dieser Liste mit einem Stern (*) die Bereiche, in denen Du tatsächlich vollständige Kontrolle hast.
Markiere mit einem Kreis (○) die Bereiche, in denen Du teilweise Kontrolle hast.
Markiere mit einem Kreuz (×) die Bereiche, in denen Du in Wirklichkeit keine oder kaum Kontrolle hast, obwohl Du versuchst, sie zu kontrollieren.
Was bemerkst Du? Die meisten Menschen erkennen hier, dass die Kreuze überwiegen. Ein Großteil unserer mentalen Energie fließt in Bereiche, die wir eigentlich nicht kontrollieren können. (Das bedeutet nicht, dass Du nicht alles versuchen solltest, bestimmte Bereiche zu kontrollieren (wie Deine Gesundheit), es geht rein um eine nüchterne Betrachtung von außen)
Der Preis der Kontrolle
Notiere für jeden Bereich, den Du kontrollieren willst, welchen Preis Du zahlst:
Wie viel geistige Energie kostet es Dich?
Wie fühlt sich Dein Körper an, wenn Du versuchst, diesen Bereich zu kontrollieren?
Was entgeht Dir, während Du damit beschäftigt bist, Kontrolle in dem Bereich auszuüben?
Wie beeinflusst dieser Kontrollversuch Deine Beziehungen?
Die Quelle der Kontrolle
Frage Dich für jeden Bereich:
Woher kommt das Bedürfnis nach Kontrolle?
Welche Angst liegt darunter?
Was befürchtest Du, würde passieren, wenn Du die Kontrolle aufgibst?
Welches tiefere Bedürfnis versuchst Du durch die Kontrolle zu befriedigen?
Erschließe die Möglichkeit der Hingabe
Reflektiere abschließend:
In welchen Bereichen wäre es befreiend, loszulassen und hingabefähiger zu sein? (auch wenn Du Dir das momentan gar nicht vorstellen könntest?)
Was könnte geschehen, wenn Du in diesen Bereichen Kontrolle gegen Vertrauen eintauschst?
Wie würde sich Dein Leben verändern, wenn Du in diesen Bereichen weniger Energie in Kontrollversuche investierst? Wofür könntest Du diese Energie dann nutzen?
Wenn Du diese Übung gemacht hast, dann super - wenn nicht, empfehle ich Dir aus Herzen, sie zumindest zu versuchen.
Es handelt sich dabei keinesfalls nur um eine einfache Übung. Es ist ein tiefgreifender Akt der Selbsterkenntnis.
Wie schon die hermetische Weisheit lehrt: "Erkenne dich selbst, und du wirst das Universum und die Götter erkennen." (2. hermetische Gesetz)
Durch das bloße Beobachten Deiner Kontrollmuster beginnt bereits der Prozess der Transformation. Du trittst aus der vollständigen Identifikation mit den Mustern heraus und schaffst einen kleinen, aber entscheidenden Raum zwischen Dir und ihnen.
In diesem Raum – diesem feinen Abstand zwischen Beobachter und Beobachtetem – liegt der Kern Deiner Freiheit.
Wahre Transformation liegt nicht im Außergewöhnlichen, sondern in der Art, wie du das Gewöhnliche durchlebst.
Nachdem wir uns die möglichen Kontrollmuster angeschaut haben, lass uns gemeinsam zum Kern unserer Reise kommen:
Hingabe bewusst erleben und nicht nur als abstraktes Konzept verstehen.
Wie mit allem spielt es am Ende nur eine Rolle, wie Du Theorie in der Praxis umsetzt. Du kannst zwar darüber philosophieren, wie Du etwas am besten machst - wenn Du es aber immer nur theoretisch betrachtest und nie anwendest, bleibt es nutzloses Wissen.
Mikromomente der Hingabe
Auch wenn wir diese Vorstellung davon haben, so ist Hingabe keinesfalls ein dramatischer Akt der Selbstaufopferung. Im Gegenteil: Ihre volle Kraft entfaltet sie in den kleinsten Momenten unseres Alltags.
Denn erst, wenn wir uns den kleinen - und scheinbar unbedeutenden - Dingen hingeben können, können wir es auch bei vermeintlich Großen oder Einschnitten in unserem Leben. Jede noch so kleine Praxis ist wie ein Riss, der sich durch das Mauerwerk frisst und infolgedessen ganze Mauern zum Einsturz bringen kann.
Lass uns also einmal schauen, wie diese kleinen Momente der Hingabe aussehen können:
1. Praktische Hingabe an der Ampel
Du stehst vor einer roten Ampel. Das nervt Dich. Du hast keine Zeit dafür, einen wichtigen Termin und noch so viel zu tun.
Statt ungeduldig zu werden, nutze diese 30 Sekunden, um vollständig loszulassen.
Spüre, wie du den Widerstand gegen diesen Moment aufgibst und dich dem Rhythmus des Lebens hingibst.
Nimm dabei alles wahr und verschmelze mit der Situation (das ist im Kern die vollständige Hingabe, komplette Verschmelzung mit der Situation - Einheit in der Dualität).
2. Die "Wetter-Hingabe"
Bei Regen, Hitze oder unerwartetem Wetter – statt dich zu beschweren, übe die bewusste Entscheidung: "Ich gebe meinen Widerstand gegen das auf, was bereits ist."
Es ist nun mal gerade so, wie es ist - und wenn Du das Wetter nicht verändern kannst, ergibt es auch keinen Sinn, sich darüber zu beschweren.
Bemerke, wie sich dein Körper entspannt, sobald du aufhörst, gegen die Realität anzukämpfen.
3. Hingabe beim Warten (ähnlich der Ampel-Hingabe)
In der Schlange im Supermarkt, beim Arzt oder im Stau – statt innerlich zu rebellieren, sage zu dir selbst: "Ich gebe mich diesem Moment hin. Alles ist gut so, wie es ist."
Ja, das geht auch, wenn man eigentlich einen wichtigen Termin hat.
Mein Rat: Übe dies primär dann, wenn Du keinen echten Zeitdruck hast und es Dich einfach nur nervt, dass Du warten musst. Dadurch schaffst Du eine Basis, die Dich trägt, wenn der Zeitdruck in dieser Situation auch noch dazu kommt.
Spüre, wie dein Atem tiefer wird und Du Dich sichtlich entspannst.
4. Hingabe durch Körperempfindung
Bei leichtem Unbehagen, Müdigkeit oder Kribbeln – statt es sofort zu beseitigen oder zu ignorieren, wende dich der Empfindung zu und sage Dir innerlich: "Ich lasse dich sein, wie du bist."
Das kann eine Keimzelle tiefer, innerer Freiheit sein.
Integriere dies auch auf jeden Fall in Deine Meditationspraxis. Wenn es juckt, dann lass es jucken - bis es vergeht.
Fun Fact: Das Gefühl verlässt Dich nach ein paar Momenten, nachdem Du ihm Aufmerksamkeit geschenkt hast.
5. Die Gedankenfluss-Hingabe
Ein Klassiker - insbesondere in der Meditationspraxis.
Wenn du bemerkst, dass dein Verstand rast, statt zu versuchen, die Gedanken zu stoppen, beobachte sie wie Wolken am Himmel und sage Dir innerlich: "Ich kontrolliere euch nicht. Ihr dürft kommen und gehen." (Beobachte dabei, ob Du dadurch neue Gedanken formst.)
Das ist Hingabe an den natürlichen Fluss deines Bewusstseins.
All dies sind nur kleine (und kurze) Momente in Deinem Leben. Doch wenn Du in jeder dieser Situationen Hingabe kultivierst, bildet sich auf Dauer ein ganzes Netz an Hingabe, das Dich durch Deinen Alltag trägt.
Die "Atem-Hingabe" - eine 30-sekündige Praxis für Deinen Alltag
Ein weiterer sehr zugänglicher Einstieg in die Hingabe ist unser Atem.
Er ist immer da - egal, ob Du ihn versuchst zu kontrollieren oder nicht. Du kannst zwar den Verlauf des Atems steuern, Du hast dabei jedoch keine absolute Kontrolle über ihn - in absehbarer Zeit musst Du wieder Ein- oder Ausatmen.
Eine kleine Anekdote dazu:
Zu Beginn meiner Meditationspraxis hatte ich Angst, in die Gedankenstille hineinzugehen, da ich dachte, ich würde dann auch aufhören zu atmen. So als ob jeder Atemzug bewusst durch einen Gedanken gesteuert werden müsste.
Das ist natürlich nicht der Fall - allein aus dem Überlebensinstinkt heraus können wir nicht "vergessen" zu atmen (beim Ertrinken ist das am Ende auch oft die Todesursache: Der Atemnotreflex)
Ich weiß, das klingt erstmal fantastisch - ist im Grunde aber auch eine natürliche Geschichte unseres Egos, dass der zeitlichen Auslöschung entgehen möchte. (Und je mehr wir uns auf unseren Atem konzentrieren, umso stärker auch erst einmal der unbewusste Drang, ihn kontrollieren zu wollen, wodurch die Sorge schlüssig wird.)
Der Atem stellt somit auch einen perfekten Partner für unsere Hingabepraxis dar, bei der wir uns einfach nur mal fallen lassen dürfen.
Die folgende kurze Übung kannst Du immer und überall durchführen - vornehmlich, wenn Deine Konzentration nicht gerade woanders gebraucht wird.
Lenke Deine Aufmerksamkeit auf Deinen Atem.
Du entscheidest Dich für die Übung. (Das ist so wichtig. Eine klare Entscheidung, diese Übung jetzt zu machen, führt zu einer immensen Umsetzungsklarheit. Das gilt generell für Entscheidungen, die Du wirklich triffst.)
Nimm wahr, dass Du atmest.
Es geht nicht darum, Deinen Atem zu kontrollieren.
Nimm nur wahr, dass Du atmest. Mehr nicht.
Erlaube dem Atem, so zu sein, wie er ist.
Sei er flach oder tief, ruhig oder unruhig, langsam oder schnell.
Lass den Atem genauso sein, wie er gerade ist - ohne aktive Beeinflussung.
Gib nun auch den Rest Deiner Kontrolle über den Atem ab.
Wechsel bewusst von "Ich atme." zu "Ich werde geatmet."
Vielleicht spürst Du dabei auch schon, wie eine tiefere Intelligenz Deinen Körper belebt.
Dieser Schritt wird etwas dauern. Aber durch regelmäßige Übung kommst Du an diesen Punkt.
Du gehst dabei in eine Art kurze Meditation über - empfange jeden Atemzug genauso, wie er kommt. Nimm ihn an - als ein Geschenk ohne Gegenleistung.
Nach einiger Übung wirst Du an dieser Stelle eine Erweiterung des Raumes erspüren. Ein Raum, in dem Du nicht mehr der Kontrolleur, sondern der empfangende Zeuge der Umstände bist.
Dieser Raum ist das Aufgehen in dem Moment. Die vollkommene Annahme der Umstände, die dazu führt, dass Du wieder klar und bewusst handelst. Aus dieser Annahme heraus kontrollierst Du, was kontrolliert werden "muss".
Die komplette Durchführung der Übung nimmt später nicht mehr als 30 Sekunden ein - wobei es Dir natürlich frei steht, das Ende so lange zu gestalten, wie Du möchtest.
Am Anfang musst Du Dich noch etwas mehr konzentrieren, weshalb Du Dir mindestens 5 Minuten Zeit nehmen solltest.
Sobald sie aber in Deinen Alltag integriert ist, liefert sie nicht nur kurze Momente der kompletten Entspannung, sondern unterbricht auch automatische Kontrollmuster.
Sie macht genau das, was ich meinen Kunden als eine der stärksten Praktiken mitgebe:
Du erschaffst automatisierte Momente in Deinem Alltag, in denen Du komplett zur Ruhe kommen kannst. Wenn notwendig, bist Du im Anschluss auch direkt wieder bei 100% - du hast jedoch die Stromzufuhr, die Dich unbewusst dauerhaft belastet, für einen kurzen Moment unterbrochen.
Das ist einer der effektivsten Wege, um Dauerstress zu beseitigen - indem wir ihn immer wieder automatisiert unterbrechen und unser System entspannen. Mehr dazu findest Du auch in meinen anderen Newslettern.
Hingabe zum gegenwärtigen Moment
Wenn Du Dich mit spirituellen Traditionen und Lehren auseinandersetzt, wirst Du immer wieder über eine bestimmte Erkenntnis stolpern:
Der gegenwärtige Moment ist alles, was wir haben. Es gibt keinen anderen. Es kann nur das JETZT geben und sonst nichts.
Damit ist klar, dass echte Hingabe auch immer nur die Hingabe an das JETZT sein kann.
Für den effektivsten Weg, das Jetzt direkt zu erleben, empfehle ich Dir meinen Newsletter zur absoluten Basis. Dort findest Du eine Übung am Ende, die Dich durch mechanische Anwendung in das Jetzt begleitet. Es handelt sich um ein Gefühl der Einheit, das über viele verschiedene Wege erlangt werden kann und oft auch Gegenstand von Meditationen ist.
Hingabe an den Moment ist vermutlich die aktivste Form der Präsenz - ein vollkommenes Erwachen zum Leben, wie es gerade wirklich ist und nicht wie unser Verstand es gerne hätte.
Dadurch erfahren wir auch, dass in der Hingabe eine tiefere Sicherheit liegt, als in jeder Kontrolle.
Jeder Stress entsteht aus dem Widerstand zum gegenwärtigen Moment. Keine Ausnahme. Ohne diesen Widerstand kann Stress nicht existieren.
Das ist der Kern meiner Arbeit. Dafür schreibe ich Dir die Newsletter. Damit Du effektive Übungen hast, jederzeit in diesen Moment des JETZT zu kommen und ihn somit fest in Deinen Alltag integrierst. Damit durchbrechen wir jeden Stressverlauf und können uns aktiv und bewusst dafür entscheiden, den Stress für uns zu nutzen.
Dadurch verankerst Du Dich in der Stille und hast das Werkzeug in der Hand, in Deinem Sinne handeln zu können.
Hingabe als Weisheitstor
Wahre Hingabe ist nicht das Ende Deiner Handlungsfähigkeit, sondern der Beginn Deiner wahren Kraft.
Wir haben uns bereits angeschaut, dass Hingabe oft als etwas Passives verstanden wird. Als etwas Schwaches, eine Unterwerfung vor dem Starken - denn, wenn sich etwas dem Starken unterwirft, muss es schwach sein, oder?
Und ja, das mag eine mögliche Auslegung der Hingabe sein. Es gibt den Ausdruck der Hingabe, bei der man sich dem Starken unterwirft - sowohl aus einer Position der Schwäche als auch aus einer Position der Stärke.
Die Entscheidung zur aktiven Hingabe ist dagegen eine der mutigsten und kraftvollsten Entscheidungen, die Du treffen kannst - denn sie katapultiert Dich in eine extrem starke Position.
Du kannst Dir das wie folgt vorstellen:
Wenn Du Dich passiv unterwirfst, bist Du Deinem Umfeld ausgeliefert. Es gibt keinen inneren Raum, in dem Du in Deiner Macht stehst, sondern Du ziehst Deinen eigenen Handlungsspielraum komplett zurück und ergibst Dich den Umständen.
Das kann sogar so weit gehen, dass Du Dich vollkommen selbst verlierst und in der Identifikation mit den Umständen und Deinem Verstand ‚vergehst‘. Das ist mit der Ohnmacht des eigenen Bewusstseins vergleichbar.
Im Falle der bewussten Hingabe öffnest Du dagegen den inneren Raum.
Ein Raum, im vollen Bewusstsein der Umstände und dessen, was passiert.
Ein Raum, in dem Du die volle Kontrolle über Dein Handeln erhältst.
Es handelt sich um die Entscheidung, ob Du Toni oder Luca bist. Ob Du erschöpft mitgerissen wirst und alles passiv erduldest, oder Deine Kraft bündelst und das, was Du beeinflussen kannst, mit voller Macht beeinflusst.
Es geht darum, aus der Hingabe heraus eine Entscheidung zu treffen. Diese Entscheidung kann dann immer auch sein, Tonis Position einzunehmen und gegen den Strom zu schwimmen. Immer.
Doch dann ist es eine bewusste Entscheidung, die aus der Klarheit der Hingabe heraus getroffen wurde. Es handelt sich dann nicht um eine Aufgezwungene, nur weil unser Verstand keine Lust hat und uns in unserer Opferidentifikation gefangen halten möchte.
Du entscheidest Dich also nicht zwischen: Hingabe und Handeln. Nein.
Du stellst Dir die Frage: Wie fälle ich meine Entscheidung? Aus der Enge der Angst heraus oder der Weite des allumfassenden Bewusstseins?
Wenn Du dabei tief in Dich hinein horchst, erkennst Du die Qualität der Stille. Du weißt die Antworten auf Deine Fragen. Auch wenn Dein Verstand Dir sagt, dass sie keinen Sinn ergibt oder nicht beachtet werden sollte.
Sei ehrlich zu Dir - sobald Du es einmal geschafft hast, den Nebel des Gedankenlärms zu durchschreiten, fällt es Dir immer leichter, Dich mit der intuitiven Weisheit der Stille zu verbinden. Zu unterscheiden, ob Dein tieferes Wesen oder oberflächliche Reaktionen und Reize zu Dir sprechen. Hingabe ist ein Weg dahin.
Der Tanz von Handeln und Geschehenlassen
In unserer Welt sind wir kollektiv auf das Handeln ausgerichtet. Wir bekommen oft unbewusst oder auch sehr klar kommuniziert, dass unser Wert daran hängt, was wir tun. Und wie wir es tun. Oder was wir erreicht haben.
Wir haben einen tief sitzenden Glaubenssatz, dass etwas Erstrebenswertes nur durch aktive Anstrengung erreicht werden kann. Es darf nicht mühelos sein. Mühelos ist wertlos.
Dass das nicht der Fall ist, ist offensichtlich - auf der anderen Seite ist es aber auch nicht der Fall, dass wir ohne jegliches Handeln etwas erreichen können.
Die Kunst liegt also in einer Balance zwischen den scheinbaren Gegensätzen: "Aktives Handeln" vs. "Passives Geschehenlassen" - ein Tanz, um beides in Einklang zu bringen.
Kurzer Reminder: Wir sprechen auch hierbei von verschiedenen Ebenen. Deshalb kann "passives Geschehenlassen" als Ausdruck der aktiven Hingabe verstanden werden, auch wenn die Worte scheinbar nicht dazu passen.
Im Taoismus finden wir dazu die Entsprechung des Wu Wei - das "Nichthandeln" im Sinn von dem 'Verzicht auf gegen einen natürlichen Verlauf gerichtetes Handeln'. Das bedeutet nicht, nichts zu tun, sondern sein Handeln an den natürlichen Fluss der Ereignisse auszurichten.
Es handelt sich dabei um einen Flow-Zustand. Ein Zustand, in dem Du das Gefühl hast, nicht mehr selbst etwas zu erschaffen, sondern dass etwas anderes durch Dich erschafft.
Flow ist im Grunde nichts anderes, als eine Hingabe an die Tätigkeit, die Du verrichtest.
Das passiert uns meist unbewusst, wenn wir eine Tätigkeit ausführen, die wir lieben - kann aber auch eine bewusste Entscheidung sein (auch wenn wir uns das aus unserem Verstand heraus schwer vorstellen können. Der Zustand des Flows findet abseits des Verstandes statt - dieser wird dabei lediglich verwendet, wenn nötig.)
Der Tanz des Nichthandelns
Bevor Du handelst, gib Dich bewusst dem Moment hin. Erkenne das, was ist, ohne in den Widerstand zu gehen. (Begib Dich auf die Basis des Seins.)
Lausche auf Deine Intuition, Deine innere Führung. Erkenne den offenen Raum in Dir, und vor allem die Möglichkeiten, die Du zum Handeln hast.
Wenn es notwendig erscheint, dann handle. Handle aus dem bewussten Raum der Stille in Dir. Handle ohne Zwang, sondern nur, weil Du wirklich handeln möchtest
Auch wenn wir hier recht "gechillt" reden und sich das alles so liest, als würden wir von langsamen, in Watte gepackten Handlungen sprechen, so ist dies keineswegs der Fall. Die Handlungen, die sich intuitiv richtig anfühlen, sind extrem bestimmt und schnell. Sie können beherzt, langsam, sinnlich, liebevoll, aber auch brutal und gewaltvoll sein. Das alles sind Wertungen, die hier keine Rolle spielen.
Tue, was getan werden muss, unabhängig des Ergebnisses. Erzwinge kein Ergebnis, sondern richte Deine Handlung entsprechend aus und lass geschehen, was geschehen wird. (Greife ein, wenn es sich richtig anfühlt!)
Diese Anleitung beschreibt jeden einzelnen Moment. Die innere Führung ist in jedem Moment wahrnehmbar. Sieh dies nicht als etwas Abgeschlossenes an, sondern als einen Prozess. Du wendest das "Rezept" in jedem Moment neu an. Es ist eine Art der Lebensführung, die aber auch partiell Anwendung finden kann.
Kehre nach der Handlung in den Zustand der Hingabe zurück, bis sich der nächste Impuls zum Handeln zeigt.
Diese Übung kannst Du jederzeit durchführen - oder Dir auch bestimmte Situationen definieren, in denen Du sie praktizieren möchtest. Es geht am Ende um eine Art Lebensführung, aber das muss auch nicht der Fall sein. Du kannst sie einfach in Deinen Werkzeugkasten mit aufnehmen und anwenden, wenn es sich richtig anfühlt.
Es gibt dabei noch einen weiteren Aspekt der Hingabe, der in der Absicht selbst liegt. Hingabe kann auch sein, dass Du Dich der Tätigkeit hingibst, ohne die Früchte des Handelns zu begehren. In dem Moment ist das auch richtig - denn nur so kannst Du Dich vollkommen dessen hingeben, was ist.
Ich möchte hier an der Stelle aber nicht weiter darauf eingehen, da ich den praktischen Bezug zum Leben beibehalten und nicht in eine starke spirituelle Richtung abdriften möchte. Ich will, dass Du erkennst, wie Du all das praktisch in Deinem Leben anwenden kannst und dadurch extreme Klarheit und tiefen Frieden in der präsenten Stille findest. Egal, was Du tust und egal, was die Gründe für dieses Handeln sind.
Befreite Identität: Transformation durch Hingabe
An der Schwelle der voll ständigen Hingabe entdeckst Du, dass das, was Du zu verlieren fürchtetest, niemals wirklich deins war – und das, was Du zu finden hoffst, niemals wirklich verloren war.
Am Ende dieses Newsletters möchte ich mit Dir noch kurz auf die transformierende Kraft der Hingabe eingehen. Alles, was wir uns bis hierhin angeschaut haben, sollte Dein Verständnis der Hingabe vertiefen und Dir ihre praktische Anwendung im Alltag näher bringen.
Aber lass uns noch einen Blick auf eine der grundlegendsten spirituellen Fragen werfen:
"Wer bin ich wirklich?"
Und was hat das mit Hingabe zu tun?
Wie wir bereits gesehen haben, löst Hingabe nicht nur die Wertungen zur Situation und Deine reaktiven Handlungen auf, sondern auch Deine Identifikationen. (Wenn Du Dich intensiver mit Identifikationen beschäftigen möchtest, findest Du hier den Beitrag dazu).
Die Kurzform:
Identifikationen, die wir im Laufe der Zeit gebildet haben - sei es durch Rollen, Geschichten, Selbstbilder, Überzeugungen und Muster - erzeugen eine Art "kleines Selbst".
Dieses "kleine Selbst" bezeichnen wir für gewöhnlich als das "Ich" oder "Ego", das in ständiger Anspannung lebt, da es sich permanent zu schützen, zu behaupten und zu beweisen versucht.
Hier setzen wir die Hingabe an: In dem Moment, wo Du Dich wirklich der Situation hingibst, löst Du die Identifikationen auf. Nicht gewaltsam, sondern ganz sanft. Du entspannst Dich dabei förmlich in die Identifikationen hinein.
In dem "Zustand der Hingabe" tauchst Du in eine neue Wahrnehmungsform ein, die als eine Art bewusster Zustand bezeichnet wird. Dabei richtest Du das Licht Deines Bewusstseins auf die Identifikationen, wodurch sie sich allein durch die Erkenntnis, vorhanden zu sein, auflösen.
Stelle Dir vor, Du hast Dich (meist unbewusst) immer als "Der Starke" - ohne Schwäche - gesehen. Oder als "Die Perfekte", die immer alles unter Kontrolle hat. Identifikationen, die Dir scheinbare Sicherheit und Halt geben - in Wirklichkeit Dich aber in diesen Rollen gefangen halten.
Tiefe Hingabe transformiert Deine Wahrnehmung nun so, dass Du die verzweifelte Verteidigung dieser Rollen loslässt. (Die Verteidigung bemerkst Du oft erst, wenn Du Dich aktiv gegen diese Identifikationen stellst.) Du gestattest Dir, einfach nur zu SEIN, ohne Dich ständig in dieser Rolle beweisen zu müssen.
Stelle es Dir wie eine schwere Rüstung vor, die Du schon so lange trägst, dass Du sie vergessen hast. Du bemerkst sie nicht einmal mehr.
Nun darfst Du sie endlich ablegen. Stelle Dir das Gefühl der Befreiung vor, wenn Du das Gewicht endlich fallen lässt.
Dein Ego wird alles versuchen, Dich davon abzuhalten, da es in dem Moment selbst untergeht. Du wirst eine Menge Widerstand spüren und es wird Dir einreden wollen, dass Du verschwindest, wenn Du alles loslöst, was Dich definiert.
Ihr dürft beide die Erfahrung machen (du wirst es nie verstehen, es kann nicht verstanden werden), dass dies nicht wahr ist. Das kleine Selbst löst sich auf, ja, aber nicht für immer - es ist ein fester Bestandteil von Dir und solange Du auf dieser Welt wandelst, wird es immer bei Dir bleiben.
Doch die wahre Sicherheit und den festesten Halt wirst Du erst erfahren, wenn Du Dich dem Moment hingibst und den "kleinen Tod des Egos" stirbst.
Denn dann erlebst Du:
Was Dich hält
Was Dich trägt
Was immer da ist
Ja, die Vorstellung, alles Bekannte loszulassen, macht Angst. Sie macht Dir eine solche Angst, dass Du Dich vielleicht jahrelang nicht trauen wirst, Dich wirklich hinzugeben.
Doch eines Tages wird entweder die Neugierde oder der Schmerz so groß werden, dass Du es versuchen wirst.
Stelle Dir Dein Ego wie eine Wolkenschicht vor. Deine Identifikationen sind Wolken, die einen klaren, blauen Himmel verdecken.
Sie kommen und gehen, haben tausend Formen und Farben. Manche sind dunkel und bedrohlich, andere leicht und hell. Wir identifizieren uns mit diesen Wolken, mit ihren Ausdrücken und scheinbaren Bedeutungen. Wir halten uns selbst für diese Wolkenschicht und glauben, dass wir die Wolken sind.
Hingabe ist wie ein sanfter Wind, der die Wolken auflöst und wegbläst. Der klare, weite Himmel wird offenbart. Ein Himmel, der schon immer da war und nur durch die Wolken in ihren Formen und Farben verdeckt wurde.
In dem Moment erkennen wir:
Wir sind dieser Himmel. Wir waren schon immer dieser Himmel und werden nie etwas anderes sein können - egal, in welcher Situation wir uns auch befinden.
Hier erfährst Du tiefe Stille, Frieden, Freiheit und die unendliche Weite des Seins. Etwas, das nicht von äußeren Umständen abhängen kann. Etwas, das immer da ist und nur durch den Lärm des Verstandes verdeckt wird.
Jenseits von Kontrolle: Dein Weg beginnt
Der gegenwärtige Moment ist das einzige Portal in den Raum der Stille.
Alles andere (Vergangenheit, Zukunft, Konstrukte oder Theorien) sind nur Abstraktionen des einen unendlichen Moments.
Nur das JETZT ist wirklich. Nur das JETZT ist das, was passiert - abseits der Vorstellungen unseres Verstandes. Nur dem Jetzt kannst Du Dich hingeben.
Hingabe an diesen Moment bedeutet, diesen einen Moment genauso anzunehmen, wie er sich zeigt. Es bedeutet nicht, alles zu billigen oder gutzuheißen. Es bedeutet, aufzuhören, gegen die Realität anzukämpfen und diesen Moment abzulehnen. Dadurch handelst Du mit der klaren Sicht auf das, was ist, und was wirklich getan werden muss.
Damit befreist Du Dich vom Urteilen, Bewerten, von Vorstellungen und Projektionen - Du entfernst alle Filter, die diesen einen Moment verzerren.
Mit dem Lösen Deiner Identifikationen, löst sich auch Dein Leid. Dieses ist Ausdruck des Widerstands gegen den Moment. Lösen wir uns vom Widerstand, lösen wir uns vom Leid.
Hingabe ist dabei ein Sprung ins Unbekannte. Wir wissen nicht, was passieren wird, wenn wir alles loslassen. Aber genau dadurch begeben wir uns in den Raum der wahren Entfaltung und Transformation.
Hier finden wir auch eine der tiefsten spirituellen Erkenntnisse, zu der Dich die Hingabe bringen kann:
Je vollständiger Du Dich der Wahrheit dieses Momentes hingibst, desto deutlicher erkennst Du, dass Du nie etwas anderes warst als DAS, dem Du Dich hingibst.
Lies das noch einmal. Du bist das, dem Du Dich hingibst. In Deinem Kern. In dem, was Du wirklich bist.
"Der Tropfen fällt nicht ins Meer - er erkennt, dass er immer schon das Meer war."
Und damit schließt sich der Kreis.
Wir haben unsere Reise bei der Kontrolle begonnen und enden damit, dass Kontrolle nur eine Illusion ist. Du warst nie der verzweifelte Schwimmer, der gegen die Strömung ankämpfte, sondern im Kern das Wasser, in dem sich der Schwimmer befand.
Während ich diese Zeilen schreibe, bemerke ich, wie mein eigenes System zwischen Kontrolle und Hingabe pendelt. Wie oft ich selbst in die Falle tappe, die Illusion der Kontrolle für Sicherheit zu halten. Und wie befreiend es sein kann, mich dem Fluss des Lebens anzuvertrauen – nicht passiv, sondern präsent und bewusst.
Vielleicht ist das die eigentliche Einladung: Das Leben nicht als etwas zu betrachten, das kontrolliert werden muss, sondern als eine Erfahrung, der wir uns öffnen dürfen. Mit allen Höhen und Tiefen. Mit allem Wissen, das wir haben – und der Weisheit zu erkennen, dass wir nie alles wissen werden.
Wenn du diese Woche einen Moment findest, frage dich: Wo halte ich fest, wo könnte ich loslassen? Wo kämpfe ich gegen den Strom, wo könnte ich mich tragen lassen?
Außerhalb von richtig und falsch liegt ein Feld. Dort treffe ich dich.
Peace
